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      Zulieferer für Hitlers Krieg
      Continental in der Zeit des Nationalsozialismus

      Wer die Zukunft gestalten will, muss seine Vergangenheit kennen. Das gilt auch für Unternehmen. Eine unabhängige wissenschaftliche Studie beschäftigt sich nun mit Continentals Verantwortung im Nationalsozialismus – und bezieht in einem innovativen Ansatz auch die Firmen mit ein, die damals noch nicht Teil des Konzerns waren. Detailliert zeichnet die Studie nach, wie Continental zu einem systemrelevanten Zulieferer für Hitlers Krieg wurde und dabei auch Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge einsetzte. Ein Schlussstrich unter die Vergangenheit ist mit der Aufarbeitung nicht verbunden – im Gegenteil.

      In die eigene Geschichte zu blicken, ist oft schmerzhaft, aber dennoch unerlässlich. Das gilt umso mehr, wenn es darum geht, eine Zeit auszuleuchten, die als eine der dunkelsten der Geschichte gilt: das „Dritte Reich“. Was haben Unternehmen damals gewusst, was haben sie mitgetragen, was befördert oder gar initiiert? Wie waren sie mit dem Regime verstrickt, wovon haben sie profitiert? Immer wieder sind diese Fragen Thema öffentlicher Debatten. Große deutsche Konzerne und Unternehmerfamilien haben – auch auf Druck der Öffentlichkeit – Untersuchungen über ihre damalige Rolle in Auftrag gegeben. Zum Teil dauern diese bis heute an. Das zeigt: Noch längst sind nicht alle Details ans Licht gebracht. Mit der jetzt veröffentlichten Studie „Zulieferer für Hitlers Krieg. Der Continental-Konzern in der NS-Zeit“ stellt sich auch Continental seiner Verantwortung. Mit Prof. Dr. Paul Erker hat sich dabei ein ausgewiesener Experte für Unternehmensgeschichte im Nationalsozialismus mit der Vergangenheit des Unternehmens beschäftigt.

      Continental als Bestandteil der Kriegsmaschinerie

      Eine zentrale Erkenntnis der Studie: Continental war ein Stützpfeiler der nationalsozialistischen Rüstungs- und Kriegswirtschaft. Das Unternehmen hat von der Mobilisierungs- und Aufrüstungspolitik im „Dritten Reich“ wirtschaftlich profitiert. 

      Die Studie zeichnet detailliert nach, wie es dazu kam, und verfolgt dabei den innovativen Ansatz des „virtuellen Konzerns“. So wurden mit Teves, VDO, Phoenix und Semperit auch diejenigen Unternehmen berücksichtigt, die im Betrachtungszeitraum noch nicht Teil der heutigen Continental waren. Warum dieser Weg, erklärt Erker so: „Mit dem Kauf und der Übernahme eines Unternehmens wird auch dessen Geschichte mit allen Höhen und Tiefen miterworben, die dann gleichsam Teil einer neuen Konzerngeschichte wird. Insofern kann eine Geschichte des Continental-Konzerns in der NS-Zeit sinnvoll nur auch als Geschichte der wichtigsten erworbenen Firmen untersucht und geschrieben werden.“ Es ist diese Gesamtbetrachtung, die es ermöglicht, die Entwicklung des Unternehmens zu einem „NS-Musterbetrieb“ nachzuzeichnen.

      Vom Freizeitartikelhersteller zum Akteur der Aufrüstungspolitik

      Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernehmen, ist Continental längst eine Marke mit Weltgeltung. Als Produzent und Lieferant zahlloser Verbrauchsgüter des täglichen Bedarfs hat sich das Unternehmen über Jahrzehnte ein Image als Qualitätsmarke aufgebaut. Seine Produkte begleiten die Menschen quasi durch ihr gesamtes Leben: von Gummi-Schnullern und Gummi-Spielzeug über Einkochringe, Gummischürzen, Wärmflaschen und Schuhsohlen bis zu Fußbällen, Fahrrad-, Motorrad- und Autoreifen sowie chirurgischen Verbandsstoffen und Betteinlagen. Auch im Rennsport ist Continental eine Größe. Die legendären „Silberpfeile“ von Daimler-Benz gewinnen in den 1930er Jahren etliche große Preise – mit Continental-Rennreifen und aufsehenerregenden Geschwindigkeitsrekorden. Die nationalsozialistische Freizeit- und Konsumgesellschaft und die vom Regime forcierte Mobilisierungspolitik birgt deshalb große Chancen für den Konzern.

      Vor allem aber profitiert Continental sukzessive von der Wiederaufrüstung im „Dritten Reich“ – auch wenn das Rüstungsgeschäft für den Konzern in diesen Jahren nur eine marginale Rolle spielt. So buhlt man bei den verschiedenen Wehrmachtstellen um Aufträge, indem man etwa die Fertigung von Gewehrtaschen aus Gummi (anstatt Leder) sowie die Herstellung von Koppeln, Tragriemen für Tornister oder Kampftauchanzügen anbietet. 1936 steigt Continental zudem in ein sich als lukrativ erweisendes Geschäftsfeld ein: die Entwicklung und Produktion von Gasmasken, die bald millionenfach als „Volks-Gasmasken“ Verwendung finden.

      Auch die später im Continental-Konzern aufgehenden Unternehmen profitieren: Phoenix, damaliger Hauptrivale im deutschen Gummigeschäft, erhält einen Großauftrag für Gasschutzanzüge und hat eine starke Marktstellung bei Wehrmachtstiefeln und Metallgummi-Verbindungen. Teves, Hersteller des „Ate-Volkskühlschranks“ und Marktführer bei hydraulischen Autobremsen, liefert ab 1937 serienmäßig Hydraulikbremsen für die Zugmaschinen und Panzer der Wehrmacht. VDO, Hersteller von Tachos, Drehzahlmessern und Benzinuhren, gelingt es durch anhaltendes Lobbying bei verschiedenen Reichsministerien, zu einem führenden Instrumentenzulieferer in der deutschen Automobil- und Luftfahrtindustrie aufzusteigen.

      Rückgrat der nationalsozialistischen Kriegswirtschaft

      Mit dem 1939 beginnenden Zweiten Weltkrieg ändert sich die Situation dann schlagartig. Im Fokus steht von nun an die Mobilisierung sämtlicher Ressourcen, sowohl von Arbeitskräften als auch Rohstoffen. „Trotz vorhergehender Fertigung für den Wehrmachtsbedarf war die plötzlich erzwungene Umstellung allein nach den Gesichtspunkten der Dringlichkeit für das Heer und heereswichtiger Industriebetriebe überraschend und radikal. Und mehr denn je mischten sich die Behörden nun direkt in die Unternehmensbelange ein“, beschreibt Erker die Lage. Für zentrale Rüstungsprodukte des NS-Regimes wird Continental zu einem der wichtigsten Zulieferer – seien es Auto- oder Flugzeugreifen, Gleiskettenpolster für Panzer, technische Schläuche, Hydraulikbremsen oder Präzisionssteuerungs-, Kontroll- und Messinstrumente für V-1-Marschflugkörper, Panzer und Geschütze.

      "Es war das Netzwerk hochspezialisierter und in Serienfertigung arbeitender Unternehmen wie Continental, Phoenix, Teves und VDO, die als Zulieferindustrie das Rückgrat der NS-Kriegswirtschaft bildeten und für dessen anfängliche Erfolge maßgeblich mitverantwortlich waren."

      Prof. Dr. Paul Erker, Unternehmenshistoriker und Autor der Continental-Studie

      Einsatz von Zwangsarbeitern und KZ-Häftlingen

      Auch die Arbeitsorganisation und Arbeitsbedingungen in den Continental-Fabriken verändern sich durch den Krieg tiefgreifend. Der erhebliche Abzug männlicher Arbeiter durch die Wehrmacht führt zum schnell wachsenden Einsatz von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern. Laut Studie insgesamt rund 10.000 Menschen. Ihr Ursprung ist vielfältig und reicht von italienischen „Jungfaschisten“ über Leiharbeiter aus dem besetzten Belgien und Dänemark bis hin zu französischen und russischen Kriegsgefangenen. Schrittweise wird der Einsatz von Zwangsarbeitern dabei immer radikaler. In den letzten Kriegsjahren sind es dann KZ-Häftlinge, die beispielsweise in der Herstellung von Gasmasken oder bei der Verlagerung der Produktion unter Tage eingesetzt werden.

      Die Arbeits- und Lebensbedingungen der Zwangsarbeiter sind menschenunwürdig. Das Continental-Management ist in diesen Prozess aktiv involviert und trägt die schrittweise Radikalisierung der Arbeitskräftemobilisierung mit. „Bei Continental ergaben sich keine unheilvollen Konstellationen eines systematischen Unterdrückungssystems, aber dennoch kam es zu Eigendynamiken einzelner Funktionsträger“, so Erker. Mit durchaus gravierenden Folgen.

      So sind viele Zwangsarbeiter beispielsweise in Wohnlagern untergebracht, in denen teils chaotische und unmenschliche Zustände herrschen – mit entsprechend dramatischen Folgen für die Insassen der Lager.

      Eine anfällige Unternehmenskultur – Continental übernimmt Verantwortung

      Dass diese Entwicklungen möglich waren, lässt sich maßgeblich auf die Menschen und die gesellschaftlichen Umstände der Zeit der Machtergreifung zurückführen. Allerdings auch auf eine Unternehmenskultur. So ist eine zentrale Erkenntnis aus der Studie, wie anfällig diese für die NS-Betriebsgemeinschaftsideologie sowie die politisch-ideologischen Ziele des NS-Regimes war. Sie wurde im Fall von Continental nicht nur von außen her, sondern auch von innen heraus deformiert.

      Dabei haben sich die fünf Unternehmen durchaus unterschiedlich verhalten: Teves etwa beschäftigte bewusst Andersdenkende und holte sich damit die politische Auseinandersetzung in die eigene Organisation. Continental wiederum versuchte an vielen Stellen unternehmerische Eigeninteressen über Regimeinteressen zu stellen, hat sich jedoch in einer Mischung aus vorauseilendem Gehorsam und innerem Druck früh dem totalitären NS-System angepasst. Dazu gehört auch die zögerliche, aber dennoch im Sinne der NS-Führung verlaufende Verdrängung von Juden aus Unternehmensleitung und Aufsichtsrat.

      „Unternehmenskulturen können unter dem Druck politischer Regime und gegenläufiger gesellschaftlicher Einflüsse schnell kippen“, schlussfolgert Dr. Ariane Reinhart, Personalvorstand von Continental. Die Erfahrungen der 1930er und 1940er Jahre sind dabei ein mahnendes Negativbeispiel. Hierfür heißt es Verantwortung zu übernehmen – und so letztlich die Gegenwart und Zukunft positiv mitzugestalten. „Die schonungslose Beschäftigung mit unserer Vergangenheit ist für uns Ausgangspunkt, eine Debatte über gesamtgesellschaftliche Verantwortung von Unternehmen anzuregen und intern als Teil der Unternehmensstrategie ernsthaft zu berücksichtigen.“ Mit anderen Worten: Continental ist mehr als seine Produkte.  Das Unternehmen fühlt sich seinen Mitarbeitern verpflichtet – genauso wie der Gesellschaft.

      Dazu gehört auch, an einer Unternehmenskultur zu arbeiten, die extremistischen Angriffen und Zwängen widersteht, sowie Frühsignale von totalitären, menschenverachtenden Systemen zu erkennen – seien es Intransparenz, Rassismus, Diskriminierung, Denunziantentum, die Verschiebung der Grenzen des Sagbaren oder anderes mehr.

      "Unternehmenskulturen ständig zu überprüfen, zu stärken und fortwährend weiter zu entwickeln. Dazu gehört eine gesunde Erinnerungskultur, um aus der Vergangenheit die Gewissheit für unsere heutige Identität und die Lehren für die Gegenwart und Zukunft zu ziehen."

      Dr. Ariane Reinhart, Personalvorstand Continental

      Der Blick nach vorn

      Auf den Erkenntnissen der Studie ruht sich Continental nicht aus, sondern setzt mehrere Zukunftsprojekte auf. So wurde das Programm „Verantwortung und Zukunft“ ins Leben gerufen. Dessen Ziel ist es, das fortwährende Lernen aus der eigenen Vergangenheit zu einem festverankerten Bestandteil der Unternehmenskultur zu machen. Kernelemente sind die systematische Integration der Studienergebnisse in die Aus- und Weiterbildung sowie eine Öffnung des Unternehmensarchivs für die Wissenschaft anlässlich des 150-jährigen Unternehmensjubiläums im Herbst 2021.

      In diesem Zusammenhang stiftet Continental das Siegmund-Seligmann-Stipendium, mit dem sie die wirtschafts- und unternehmensgeschichtliche Forschung zur NS-Zeit und zur Unternehmensgeschichte der Continental fördert. Siegmund Seligmann war Sohn eines jüdischen Lederhändlers und der erste Generaldirektor der Continental AG.

      Darüber hinaus wird Continental die Namen seiner früheren Zwangsarbeiter soweit sie überliefert sind in Form einer Gedenktafel öffentlich präsentieren. Denn, so Degenhart: „Ohne Kenntnis der Vergangenheit und damit ohne eine vollständige Aufarbeitung der NS-Geschichte ist für uns ein reflektierter und unbefangener Aufbruch in eine erfolgreiche Zukunft und die nächsten 150 Jahre von Continental nicht möglich.“

      Über die Studie

      Die Studie „Zulieferer für Hitlers Krieg. Der Continental-Konzern in der NS-Zeit“ von Prof. Dr. Paul Erker ist im Verlag De Gruyter Oldenbourg erschienen. Sie liefert eine umfassende, facettenreiche und detaillierte Analyse der Konzernjahre zwischen 1933 und 1945. Erker konnte seine Untersuchung unabhängig und frei von jeder Einwirkung und Kontrolle seitens Continental durchführen. Das Unternehmen hat ihm dazu alle relevanten Unterlagen vollständig und ohne Einschränkung zugänglich gemacht. Ganz wesentlich dabei war die Wiederbelebung des Unternehmensarchivs im Jahr 2016, durch die Erker auf etwa 30 Prozent an bisher unbekanntem oder nicht ausgewertetem Material zurückgreifen konnte.