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      Kapitel 5

      Der Continental-Reifen: Die kontinuierliche Neuerfindung eines Hightech-Produkts

      Was viele, die Continental heute kennen, nicht wissen: Den Anfang des Produktportfolios bildeten nicht etwa Gummireifen, sondern Hufpuffer, Gummibälle, Hartgummi-Kämme und andere Produkte aus diesem Werkstoff. Diese immer größere Ausdifferenzierung von Gummiprodukten sorgte dafür, dass Continental zeitweise bis zu 60.000 Artikel im Programm hatte. Das Besondere dabei: die enge Verbindung der Produkte mit den Lebenswelten der Kunden. Der Produktvielfalt zum Trotz: Das Kerngeschäft bildeten schnell die Reifenherstellung und die Produkte rund um das Themenfeld Motorisierung und Mobilität. 

      Das Hightech-Produkt „Reifen“ entwickelte im Laufe der Zeit ein veritables „Eigenleben“. Dessen Innovationszyklen wiesen in den vergangenen 130 Jahren teilweise revolutionäre Sprünge auf: Rohstoffe und Mischungstechnologien ändert sich ebenso wie das Innen- und Außenleben und die Farben. Diese Veränderungen waren immer auch Anpassungen an die sich veränderten Formen der Mobilität. So entwickelten sich in den verschiedenen Epochen in Anlehnung an die unterschiedlichen Sichtweisen auf die Mobilität auch diverse „Reifen-Philosophien“. 

      Die Liste der Reifen-Innovationen bei Continental lässt sich seit der Entwicklung des ersten Profil-Luftreifens der Welt im Jahr 1904 beliebig weit fortschreiben: Im Jahr 1910 entwickelte Continental den ersten Flugzeugreifen, 1924 den ersten Reifen für Lastkraftwagen. Vier Jahre später folgten der erste pneumatische Landwirtschaftsreifen in Europa sowie 1934 der erste Winterreifen und 1936 das erste entsprechende Produkt aus reinem Synthesekautschuk. Mitte der 1940er Jahre verzichtete Continental erstmals auf Schläuche, bevor Anfang der 1950er Jahre der erste Spezial-Winterreifen mit Spikes entstand. In den 1980er Jahren erblickten weitere Innovationen, wie der erste „Umwelt-Reifen“ von 1981 bzw. 1987, das erste RunFlat-Reifensystem von 1987/89 oder der erste Pannenlauf-Reifen von 1988/89 das Licht der Welt. Nach der Jahrtausendwende brachte Continental erstmals einen „intelligenten Reifen“ mit integriertem Sensor auf den Markt und hatte im Jahr 2015 den schnellsten für den Straßenverkehr zugelassenen Reifen im Sortiment. 

      Die ewige Suche nach dem perfekten Reifen

      Im Jahr 1898 startete Continental die Produktion von Automobilluftreifen, 41 verschiedene Modelle für alle Fahrzeuge mit einer Belastung bis 500 kg waren zum damaligen Zeitpunkt bereits verfügbar. Und obwohl die neuen Luftreifen einen erheblich höheren Komfort beim Fahren boten, taten sie sich in der Marktetablierung äußerst schwer. Denn die damals führenden Motorwagen-Hersteller Carl Benz und Wilhelm Maybach waren zunächst nicht für die neue Bereifungstechnik zu begeistern. Aus diesem Grund erstand Continental im Jahr 1895 einen eigenen Versuchswagen, um die nötigen Tests und Erprobungen selbst durchführen zu können. Den tatsächlichen Durchbruch hatte der Continental-Reifen letztlich nicht dem Privatkundengeschäft zu verdanken, sondern dem sich entwickelnden Automobilrennsport. So gewann 1901 beispielsweise der neue „Mercedes“-Wagen auf Continental-Reifen das Rennen Nizza-Salon-Nizza. 

      Als aufwändige Untersuchungen im Jahr 1910 ergaben, dass 58,3 Prozent der Defekte an Reifendecken und Schläuchen selbstverschuldet zustande gekommen waren, produzierte Continental neben Reifen von nun an auch Beratungsliteratur. Dazu gehörten etwa technische Berater, Reparatur- und Montageanleitungen sowie diverse Zubehörartikel. So wollte man zum einen sämtliche Zweifel an der Qualität des Produktes ausräumen, zum anderen dem eigenen Anspruch als Mobilitätsdienstleister gerecht werden. 

      Das Ende des Ersten Weltkrieges brachte die zentrale Innovation in der Reifentechnologie mit sich: Das jahrzehntelang vorherrschende Hochdruck-Prinzip hatte dem Niederdruckreifen Platz gemacht und die starre Karkasse dem elastischen Baumwoll-Cord. In der Praxis übersetzte sich das in einen weiteren erheblichen Gewinn an Fahrkomfort. 

      Während sich die internationale Mobilitätswelt in den 1920er Jahren bereits stark in Richtung Automobil entwickelte, war die individuelle Mobilität in Deutschland nach wie vor vom Fahrrad und Motorrad geprägt. Doch zwei Entwicklungen sollten dies schon bald verändern und den Continental-Automobil-Reifen in den Mittelpunkt des Interesses stellen. Erstens: der Continental-Reifen wurde weiblich. In diesen Jahren entdeckte das Unternehmen die moderne Frau als „Selbstfahrerin“, Autobesitzerin und damit auch Reifenkundin. Frauen waren mehr als nur eine neue Zielgruppe – sie avancierten früh zu Testimonials. Erfolgreiche Automobilistinnen wie Ada Otto zierten vielfach die Titelseiten der Kundenzeitschrift Echo Continental. Zweitens, entwickelte sich der Continental-Reifen zum rennsporterprobten Hochleistungsreifen und galt als Synonym siegreicher Hochgeschwindigkeitsleistungen. Bei zahllosen nationalen und internationalen Automobilrennen fuhren die Sieger auf Continental-Reifen über die Ziellinie. Gleichzeitig entwickelten sich die Sparten Renn- und Gebrauchsreifen zunehmend auseinander, wobei jedoch die gewonnenen Rennreifen-Erfahrungen in den normalen Reifenbau miteinflossen.

      Die NS- und Kriegszeit brachte einen tiefen Einschnitt in die Reifenentwicklung. Denn die Vierjahres-Plan-Reglementierungen des NS-Regimes und dessen Ersatzstoffökonomie hatten dazu geführt, dass sich sowohl die Typenvielfalt als auch die große Zahl der Reifendimensionen infolge staatlicher Normierungsvorgaben radikal verringerten. Stellte Continental im Pkw-Reifenbereich 1934 noch 114 verschiedene Sorten her, waren es 1937 nur noch 38. Zusätzlich änderte sich durch den Einsatz von Synthetik- statt Naturkautschuk und weiterer „deutscher Werkstoffe“ auch die Grundlage der Reifentechnologie. Der Continental-Reifen wurde zunehmend auf die Bedürfnisse, Vorgaben und Ziele des NS-Regimes ausgerichtet. Während des Zweiten Weltkriegs avancierte das Unternehmen schließlich zum Rückgrat der deutsche Kriegsmobilität. Statt wie früher die Freizeitmobilität der Konsumgesellschaft zu ermöglichen, sorgte der Reifen nun dafür, dass Soldaten ins Kriegsgebiet transportiert wurden. 

      In den Folgejahren gelang es Continental unter großer Anstrengung wieder, die enge Bindung und Identifikation zwischen Reifen und Kunden herzustellen. Doch diese Höhenflugphase war schneller vorbei als gedacht. Denn man verpasste die wichtigste Reifenrevolution der 1960er und 70er Jahre: die Stahlgürtel-Radial-Reifentechnologie. Auf Grundlage einer sehr guten Bilanz aus dem Reifensektor fällte das Unternehmen im Jahr 1965 die Entscheidung zur Weiterentwicklung des Textilgürtelreifens anstelle des Stahlgürtelreifens. Durch diese Entscheidung verlor Continental aus technologischer Sicht fast den Anschluss an die Konkurrenz. Es sollte zehn Jahre dauern, bis der Rückstand wieder aufgeholt werden konnte. 

      Mitte der 1980er Jahre sorgte Continental dann wieder für großes Aufsehen, als das Unternehmen eine neue Reifentechnologie auf den Markt brachte: das „Continental-Tire-System“ (CTS). Man verstand den Reifen erstmals als Teil eines Systems, das in Verbindung mit anderen Teilen des Automobils stand. Entsprechend wurde dieses System nun auch technisch so konzipiert. Im Jahr 1987 war das CTS dann schließlich technisch ausgereift und bereit für die Serienfertigung. Zwar konnte sich aufgrund der hohen Fertigungskosten das Konzept letztendlich nicht auf breiter Basis durchsetzen, weshalb es in einem auf die spezifische Pannenlaufeigenschaft zugeschnittenen Spezialreifen aufging. Allerdings brachte es einen immensen Imagegewinn für Continental mit sich. Das CTS-Projekt wurde zu einem Identifikationsobjekt, das die kaum vergangenen schweren Zeiten endgültig vergessen machte. 

      Die folgenden Jahre standen ganz im Zeichen der Suche nach einem „intelligenten Reifen“. Bereits 1999 wurden in einer Broschüre neue Systeme, Module und Funktionen präsentiert. Sie ergänzten und erweiterten die Eigenschaften des Reifens und stellten ihn ins Zentrum der automobilen Mobilität.  

      Eine erste Version dieses „intelligenten Continental-Reifens“ ging im Sommer 2002 in Serie. Bald darauf folgt eine zweite Version, bei der integrierte Sensoren nicht nur die Profiltiefe und Beschädigungen am Reifen überwachten, sondern auch Informationen über dessen Einsatzbedingungen wie Luftdruck, Temperatur und Zustand der Straße lieferten. Das Konzept, den Reifen in die Fahrwerkregelung zu integrieren, hat weiterhin enormes Zukunftspotenzial und beschäftigt die Reifeningenieure bis in die Gegenwart. Im Jahr 2017 wurden auf der Internationalen Automobilmesse in Frankfurt schließlich zwei neue Reifensysteme vorgestellt, die eine neue Etappe auf dem langen Weg zum intelligenten Reifen markieren sollten: Mit „ContiSense“ und „ContiAdapt“ wurden zwei Konzepte von Systemtechnologien präsentiert, die sowohl eine kontinuierliche Überwachung des Reifenzustands gewährleisteten als auch gleichzeitig ermöglichten, die Reifenleistungseigenschaften an die jeweiligen Straßenverhältnisse anzupassen. 

      Eine Innovation, die die Reifentechnik in der Mitte der 1990er Jahre ebenfalls revolutionierte, war die sogenannte Silica-Technologie. Durch den Einsatz von Kieselsäure konnte der Mischprozess im Reifenbau so präzise gesteuert werden, dass sowohl die Segmentierung als auch die Vielfalt der Reifentypen um ein Vielfaches anstiegen. Einen weiteren Meilenstein auf dem Gebiet der Mischungstechnologie stellte die seit 2007 zum Einsatz kommende „BlackChili“-Reifenmischung dar. Durch diese Mischung konnten die Reifeneigenschaften, wie Grip, Rollwiderstand und Laufleistung deutlich optimiert werden, ohne in einen traditionellen Zielkonflikt in der Reifenentwicklung zu geraten. 

      Während die Entwicklungszeit in der Reifentechnologie in der Vergangenheit viele Jahre dauerte, ist sie heute mit durchschnittlich zwei Jahren relativ kurz. Auch die Entwicklungsbilanz des Continental-Reifens binnen der letzten 50 Jahre kann sich sehen lassen: Bremswege wurden beispielsweise halbiert, die Laufleistungen um 15.000 Kilometer erhöht und so verdoppelt, der Rollwiderstand ging um 30 Prozent und mehr zurück. Mobilität wurde hierdurch insgesamt deutlich sicherer und komfortabler. 

       

      Fazit

      Nachdem die unterschiedlichsten Produkte von Continental lange die Lebenswelt weiter Teile der Gesellschaft waren, ragt heute der Continental-Reifen als das berühmte und überall sichtbare Produkt in der modernen Mobilitätswelt hervor. Der Continental-Reifen ist nicht nur das sichtbarste Produkt des Unternehmens, sondern eine direkte Verbindung zwischen der neuen Continental des Jahres 2021 und der alten Continental der 1890er Jahre.